Schneeweiß und Blutrot
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Als japanische Schönheit definierte sich ein maskenhaft weißes Gesicht, umrahmt von seidig schwarzem Haar und gemalten, kirschroten Lippen. Niemand beschreibt die Zähne, die automatisch einen Gelbstich haben müssten, wohl aber die bunten Farben der Gewänder und Haarnadeln und Schleifen.
Aus Japan stammt die Yugatai von der Schneeprinzessin. Yuki heißt Schnee und hime zeigt an, dass es sich um eine Prinzessin handelt. Yukihime. Der Tenno und die Kaiserin haben den Wunsch nach einem gemeinsamen Kinde. Wie verzaubert nimmt die Kaiserin den eigenen Blutstropfen auf dem frisch gefallenen Schnee auf dem Fenstersims wahr. Sie nimmt ihn wahr in der abendlichen Stille einer silberhellen Mondnacht. Weiß ist die eine Grenze der Farben: hell, licht, oben, alles. Schwarz ist die andere Grenze der Farben: dunkel, undurchsichtig, unten, nichts. Rot ist Blut, ist Leben zwischen diesen Grenzen.
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Yukihime kommt zur Welt.
Auch in Japan kennt man also eine Schneeprinzessin und wenn man das Märchen hört, merkt man durchaus, dass etliche Motive aus etlichen europäischen Märchen zusammen kommen. Und es lohnt sich, genauer hinzuschauen, wo sie übernommen, wo sie adaptiert und wo sie ganz anders sind. Im japanischen Märchen beispielsweise taucht ein Vogel auf, eine wichtige Figur, denn der Vogel hält das Mädchen am Leben, bis Rettung kommt. In dieser Funktion ist mir so ein Vogel nur aus der Ägyptischen Mythologie bekannt.
Wie dem auch sei, ein anderes Thema wirft Schatten. Bis dato kam ich nicht auf die Idee, dass der märchenhafte Wunsch nach einem Kinde, das so schön wie das Blut auf dem frisch gefallenen Schnee im dunklen Fensterrahmen sei, irgendetwas mit Ausgrenzung oder gar Rassismus zu tun haben könne. Ehedem ist das Schneewittchen bereits eine Ausnahmeprinzessin mit ihren schwarzen Haaren.
Aber auch andere Märchen, z.B. das, in dem der Wunsch des Mannes nach einer Frau, die so schön ist, wie der Stern da oben am Himmel, fallen unter die Kategorie "suspekt", denn in dem Märchen erscheint dem Mann diese Frau tatsächlich über Nacht und sie hat so helle Haut, so helle Haut, wie der Stern da oben.
Es gibt ganz sicher Gründe dafür, dass es schwarze und weiße und ockerfarbene und lehmfarbene und schlammfarbene Menschen gibt. Aber ganz sicher gehört der Hass nicht dazu! Ganz sicher gehört nicht dazu, dass man Märchen verbiegt und in die Schublade "suspekt" wirft, ohne sich der Vielfalt, die aus Ursprung und Zyklus entsteht, bewusst wird.
Rot ist Blut, ist Leben; das gilt für alle Menschen! Und sollte jemand mit blauem oder grünem oder weißem Blut da sein, bitte ich um Rückmeldung, denn dann würde berechtigter Grund für die fundamentale Änderung der Märchen und Mythen gegeben sein!
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Na gut.
Ich werde jetzt eine Geschichte erzählen. Ein Junge aus England startet eine Lebensreise und eine Prinzessin in Japan auch. Die Geschichte ist harmlos, denke ich doch. Wobei, vielleicht ist ja schon die Behauptung, dass japanische Frauen kleine Füße haben eine Suspektkategorie. Ich hoffe und wünsche, dass die Kraft unseres Verstandes und Weitblicks immer ausreicht, aus den Geschichten zu schöpfen, anstatt sich in Themen abseits von humanistischem Denken zu verlieren.
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Hört die Yugatai von der Schneeprinzess und dem Schuster
Yugatai, yogatari, das heißt soviel wie Erzählung am Abend oder Gerede über Ereignisse in der Welt.
Im Lande Japan lebte einst ein Tenno, ein Kaiser. Immer gibt es einen Tenno im Lande Japan. An seiner Seite hatte er eine wundervolle Frau, seine Gemahlin, seine Kaiserin.
Die beiden liebten und ehrten sich, waren schon lange verheiratet, bekamen aber immer kein Kind.
Eines Abends saß die Kaiserin in ihrem Zimmer am offenen Fenster und stickte. Draußen hatte es begonnen zu regnen und allmählich ging der Regen in Schnee über. Bald lag eine dichte weiße Schicht auf dem Garten und auch auf dem Fensterbrett. Der Mond kam hervor und badete alles in silbernem Licht. Gedankenverloren schaute sie hinaus und dabei war sie unachtsam und stach sich in den Finger. Blut tropte heraus und fiel auf das Fensterbrett, in den Schnee. Schneeweiß und Blutrot, daneben der Fenterrahmen aus dunklem japanischem Kirschholz. Das war schön anzusehen.
"Ach", seufzte die Kaiserin. "Gerade so ein schönes Kindlein wünsche ich mir." Nun, was soll ich Euch sagen, in dieser Nacht wurde die Kaiserin schwanger.
Der Tenno freute sich sehr und die Kaiserin beschloss in ihrem Herzen: "Wenn es ein Mädchen wird, soll sie heißen wie der Schnee: Yuki! Yukihime!
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Die Zeit schritt voran und die Kaiserin schenkte einem allerliebsten Mädchen das Leben. Sie war schön wie ein Edelstein, freundlich und ohne Fehler. Ein jeder hatte sie lieb und am liebsten war sie draußen, zunächst im Garten, aber von dort stahl sie sich gern hinaus zu den Bauern und Hirten. Der Kaiser und die Kaiserin bemerkten es wohl, versuchten es anfangs zu unterbinden, duldeten es schließlich! Was soll man sagen, seit dieses Mädchen da war und sich so gut mit den Bauern verstand, gingen auch die Regierungsgeschäfte gleich viel besser! So ein Wesen, wie Schneeprinzessin es war, hat Strahlkraft, so etwas tut der Welt gut! Und dem Mädchen selbst ging es auch sehr gut, wenn sie vom Spielen nach Hause kam, was also sollten der Tenno und seine Gemahlin dagegen einwenden.
Sie lebten in Eintracht und nichts trübte ihre Tage. Bis, ja bis es eines Tages dazu kam, dass die Kaiserin starb.
Yukihime war gerade mal 10 Jahre alt. Sie war so voll Kummer und lief hinaus zum Hirten, sie suchte Trost, der Vater war ja selbst in Trauer! Und der Hirt erzählte ihr eine Geschichte, die ihr half, diese Zeit gut zu überstehen.
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Es war einmal eine Kuh die hatte ein Kälbchen und eines Tages führte der Besitzer die Kuh hinaus, an der Weide vorbei, hin zum Schlachtplatz. Es muss Not gewesen sein, warum sonst hätte der Bauer seine Kuh zur Schlacht bringen sollen, sie hatte doch ein Kälbchen!
Das Kälbchen ging wie gewohnt der Mutter hinterher und sah, wie sie ihr auf das Haupt schlugen, um sie zu betäuben, sah, wie sie umfiel und dann...
Das Kalb wurde zurück geführt in den Stall.
Sieben Tage später ging das verwaiste Kalb hinaus, an der Weide vorbei, hin zum Schlachtplatz, starrte lange auf den unglückseligen Ort und dicke Tränen quollen aus seinen Augen. Nach einer Weile ging es zurück, in den Stall.
Sieben Tage darauf ging es wieder los, an der Weide vorbei und hielt dieselbe Andacht. Das geschah nun sieben Mal sieben Tage.
Der Bauer sah das seltsame Verhalten und die Trauer des Tieres rührte ihn sehr. Er dachte bei sich: "Wenn eine einfache Kreatur, wie die Kuh, seine Mutter so ehrt und um sie weint, dann geht es nicht an, dass sich der Mensch, der sich doch Krone der Schöpfung nennt, nicht eine solche Ehrung vollbringt. Das Kälbchen hat mir eine Lehre erteilt."
"Es ist ein guter Brauch", sagte der Hirt zu Yukihime, "den Verstorbenen nach ihrem Begräbnis sieben Mal an jedem siebenten Tag einen guten Wunsch, eine Fürbitte mit auf den Weg zu geben. Das wird deiner Mutter den Weg leichter machen und dir und deinem Vater die Trauerzeit erleichtern."
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Vater und Tochter standen die Zeit der Trauer gemeinsam durch und nach einer gewissen Zeit nahm der Vater eine neue Frau.
Sie war sehr schön und eitel. Sie besaß einen besonderen Spiegel, in den schaute sie oft und sagte: "Ach, was bin ich schön! Ich bin die Allerschönste auf der Welt!" Und der Spiegel antwortete für gewöhnlich: "Ja, Herrin, ihr seid die Schönste hier und auf der Welt"
Aber als Yukihime 13 Jahre alt wurde, da änderte sich die Antwort des Spiegels und er sagte: "Ja, Herrin, Du bist schön, jedoch Schneeprinzessin ist schöner!"
Das hörte sie gar nicht gern! Und je öfter sie diese Antwort bekam desto mehr hasste sie, was der Spiegel sagte und hasste schließlich auch das Mädchen und sie beschloss, Yukihime aus dem Weg zu räumen.
Eines Tages ging sie mit Schneeprinzess zum Brunnen im Garten und dort ließ sie mit Absicht ihren Haarschmuck hinein fallen. Dann sagte sie: "Steig da hinunter und hole mir meine Haarnadel wieder herauf, das wirst du doch für mich tun können."
Yukihime, die immer hilfsbereit war und alles tat, um auch andere glücklich zu machen, war nun aber doch etwas seltsam zumute. Dennoch ließ sie sich in den Schlund hinab und als sie sich eine Weile vorsichtig nach unten getastet hatte, stieß sie auf einen Quergang. Da kroch sie hinein, gerade noch zur rechten Zeit, denn die Stiefmutter hatte einen großen Stein herabgeworfen, der hatte sie treffen sollen.
Die Frau ging nach dieser bösen Tat in ihre Kammer und sagte: "Jetzt bin ich wieder die Schönste!"
"Überhaupt nicht!" antwortete der Spiegel. "Schneeprinzess ist schöner als du!"
In diesem Moment kam Schneeprinzess aus dem Brunnen herausgeklettert und lief zurück in den Palast.
Die Frau knirschte mit den Zähnen! Einige Tage hielt sie aus und machte gute Miene. Aber dann bat sie das Mädchen, einen Spaziergang zu machen, in den Wald.
Yukihime traute ihr nicht und füllte sich die Taschen mit Kieselsteinen, die sie beim Spaziergang auf den Weg streute. Sie gingen bis zu einer Stelle, die das Mädchen noch nicht kannte, bis hierher war sie noch nie gekommen. Die Stiefmutter sagte: "Ich habe etwas vergessen! Warte hier, ich komme gleich zurück!"
Yukihime wartete geduldig bis der Abend sich neigte, aber die Stiefmutter kam nicht. Im letzten Schein der Sonne ging das Mädchen den Kieseln nach und kam glücklich nach Hause.
Die Stiefmutter befragte eben ihren Spiegel und bekam zur Antwort: "Überhaupt nicht!"
Jetzt beschloss die Stiefmutter, Yukihime entgültig zu beseitigen. Sie beauftragte einen Diener: "Bringe Yukihime auf eine unbewohnte Insel und setze sie dort aus!"
Der Mann verstand die Welt nicht. Schneeprinzess aussetzen? Warum? Dieses freundliche Wesen, das jedermann lieb hatte? Aber er musste gehorchen, sie war die Kaiserin, seine Herrin! Und er führte das Mädchen zum Boot und fuhr mit ihr auf eine einsame Insel, dort auf den felsigen Klippen setzte er sie aus und fuhr mit steinernem Gesicht und weinendem Herzen davon und erstattete der Kaiserin Bericht.
Der Tenno, der dieser Tage unterwegs war auf Handelsreisen nach China, kam zurück und fragte nach Yukihime. "Wo ist meine Tochter! Warum kommt sie nicht, ihren Vater begrüßen?" "Was weiß denn ich!" sagte die Kaiserin. "Sie wird beim Spielen die Zeit vergessen haben." Aber Yukihime kam auch an den folgenden Tagen nicht.
Sie saß unterdessen verlassen auf der Insel und immer wenn die Sonne sank, fuhr ein kalter Wind vom Meer herüber. Sie wurde immer matter, immer kraftloser und als sie meinte, es würde nicht mehr weiter gehen, kam ein großer Vogel geflogen. Er hüllte sie in seine Schwingen und wärmte sie und speiste sie. Er kam nun jeden Abend.
Viele Male fuhr der Tenno an dieser Klippe vorüber und immer wieder rief der Vogel ihm zu "Oh du Dummkopf!" Der Diener schließlich hielt es nicht mehr aus, das weinende Herz brach sich durch das steinerne Gesicht und er vertraute sich dem Tenno an und gestand, was geschehen war.
Der Vater ließ sofort ein Schiff rüsten und zu der Klippe fahren und es war wie ein Wunder! Yukihime lebte und war schöner und stärker als je zuvor.
Die beiden fielen sich in die Arme und sie erzählte ihm alles. Der erzürnte Tenno jagte die Kaiserin aus dem Palast! "Geh mir aus den Augen! Ich verbanne dich aus diesem Land!"
Vater und Tochter lebten fortan in Freude und Eintracht, so wie es war, als die erste Kaiserin noch lebte, und jeder ihrer Tage war Ihnen ein Geschenk vom Himmel. So wird berichtet.
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In England lebten zu etwa gleicher Zeit eine Mutter und ihr Sohn.
Sie war früh zur Witwe geworden, der Mann fuhr zur See und kam einmal nicht zurück. Der Sohn, 10 Jahre alt etwa, konnte sich noch gut an den Vater erinneren. Der brachte immer dieses irdene Geschirr und Tonkrüg aus aller Welt mit und er war so ein lustiger Mensch. Wenn er kam, waren alle glücklich, aber nun lebten sie allein in einer unwirtlichen Gegend.
Gleich hinter ihrer Hütte erhob sich ein zerklüfteter, zerfurchter Fels; Wasser rann stets an ihm herunter und es war feucht und kühl, kaum jemals erreichte die Sonne das Fenster der Hütte.
Vor der Hütte, da breitete sich das Tal aus, mit den knorrigen Eichbäumen. Darin lebten die nächsten Nachbarn der Witwe, die Elfen. So manches Mal konnte sie hören, wie sie einander zuriefen, von Baumwipfel zu Baumwipfel.
Und dort drüben, da war das Moor mit den Irrwischen, den tanzenden Lichtern, die in dunkeln Nächten sogar bis an das Fenstersims heranhüpften.
Doch blieb sie, die Witwe, trotzdem von Jahr zu Jahr in dieser einsamen Hütte, vielleicht weil sie Niemandem dafür Zins zu zahlen hatte. Außerdem hatten sie gelernt, dort zu leben. Wenn es am Abend allzu schaurig oder gar gruselig wurde, gingen sie zeitig ins Bett und zogen sich die Decke weit über den Kopf.
Nun, ein jeder weiß, dass Kinder ihre Grenzen testen und das auch wohl tun müssen. Sie, die Witwe, konnte den Gehorsam ihres Sohnes nie wirklich einholen, er achtete einfach nicht auf ihre Worte, gewöhnlich setzte er einfach seinen Willen durch.
Er mochte also nicht so zeitig schlafen gehen; wenn seine Mutter ihn rief, so blieb er unten auf dem Fußboden, vor dem Sessel, neben dem Kamin am Feuer sitzen und spielte weiter, als ob er sie nicht gehört hätte.
Aber an einem Winterabend, da geschah das:
Er hörte nicht, spielte weiter, warf das Spielzeug wieder aus der Kiste heraus und machte seiner Mutter klar, dass er nicht ins Bett wolle, nicht jetzt.
Da begann der Wind draußen lauter zu heulen, die Tür rüttelte, das Fensterglas sirrte. Die Witwe wusste sehr wohl, dass in solchen Nächten Elfen und Irrwische ihr Unwesen trieben. So versuchte sie denn, den Knaben zu überreden:
“Junge, so hör doch, in solcher Nacht ist man am besten in seinem Bette aufgehoben.”
Aber er wollte nicht. Je mehr sie bat und schließlich auch schalt, desto mehr schüttelte er verneinend den Kopf, und als sie endlich die Geduld verlor und ihm sagte, dass ganz sicher die Elfen kommen und ihn holen würden, da rief er aus: "Ja! Ich will ja mit einem Elfenkind spielen!"
Ja sicher, sie verstand ihn ja. Sie lebten in dieser einsamen, schaurigen Gegend, kein Mensch, kaum ein Tier weit und breit.
Nun brach seine Mutter in Tränen aus und ging verzweifelt in das Nebenzimmer in ihr Bett. Sie wusste, dass etwas geschehen würde, dass etwas geschehen musste und sie musste es geschehen lassen!
Der Knabe blieb also ruhig, scheinbar belanglos, trotz des heulenden Windes, trotz des sirrenden Fensterglases, trotz der rüttelnden Tür, neben dem Feuer bei seiner Spielzeugkiste sitzen; das Weinen der Mutter war nur ein Geräusch mehr neben dem heulenden Wind, dem sirrenden Glas, der rüttelnden Tür.
Nicht lange hatte er so dagesessen, als er im Kamin etwas flattern hörte.
Und im selben Augenblick schwang sich das winzigste Mädchen, das man sich nur denken konnte, unten aus der Rauchfangöffnung. Sie war kaum eine Spanne hoch, hatte rabenschwarze Haare, ein milchweißes Gesicht, Wangen wie ein Pfirsich und kirschrote Lippen.
"Ach!" rief der Knabe aus, "wie heißt du?"
Sie antwortete mit einer etwas schrillen Stimme. "Ich."
Und dann fragte sie ihn. "Und du, wie heißt du?"
Vorsichtig erwiderte der Knabe: "Ich bin auch Ich."
Dann setzte sie sich neben ihn und sie begannen zu spielen.
Sie zeigte ihm einige schöne Kunststücke. Aus der Asche machte sie Tiere, die bewegten sich und sahen aus, als wären sie lebendig; dann machte sie sogar Bäume mit grünen Blättern und winzige Häuschen baute sie auch, darin waren sogar Männlein und Weiblein, die waren aber alle nur einen Zoll hoch, und wenn sie sie anhauchte, so konnten die gehen und sprechen wie wirkliche Menschen.
Aber das Feuer war heruntergebrannt, und es war dunkel geworden.
Da schürte der Knabe das Feuer mit einem Stock. Es fiel eine glühende Kohle heraus, und zwar auf das winzige Füßlein des Elfenkindes.
Da begann sie so furchtbar zu schreien, dass der Junge den Stock fallen ließ und sich mit den Händen die Ohren zuhielt; immer schriller wurde ihre Stimme, immer, immer schriller, bis es endlich nicht anders klang, als würde der ganze Wind von der ganzen Welt durch ein winziges Schlüsselloch pfeifen.
Und wieder flatterte etwas im Kamin. Der Knabe verkroch sich eiligst hinter dem Sessel und er zitterte. Und zaghaft lugte er unter dem Sessel hindurch.
"Was ist los?" hörte er eine scharfe Stimme fragen.
"Mein Fuß ist verbrannt!" schluchzte das Elfenkind. "Oh weh, oh weh!"
"Wer hat das getan?" fragte die scharfe Stimme.
Und der Knabe konnte sie sehen, die Elfenmutter. sie kam auf den Sessel zu! Sie hatte ein blasses Gesicht und lange Arme.
"Ich!" sagte das Elfenkind und schluchzte noch immer. "Mir ist beim Spielen in der Asche ein glühendes Kohlestückchen auf den Fuß gefallen."
"Wenn du es selbst getan hast, warum machst du dann so ein Geschrei?" sagte die Elfenmutter und mit diesen Worten streckte sie ihren langen, dürren Arm aus, fasste das Töchterlein am Ohr, zauste es tüchtig und zog es, am Ohr, den Rauchfang hinauf.
Lange saß der Knabe noch hinter dem Sessel, immer in banger Erwartung, dass die Elfenmutter nochmals zurückkommen würde.
Aber der Wind legte sich, der Morgen nahte, der Knabe kroch in das Bett und schlief bis zum Mittag.
Am Abend, gleich nach dem Essen war der Junge bereit, sofort ins Bett zu gehen.
Die Witwe konnte es noch gar nicht richtig fassen, sein Benehmen war ein anderes.
Er hatte sie gefragt, ob er nicht den Tisch decken könne und er hatte das Wasser für die Suppe geholt und auch das Feuerholz bereit gelegt. Und am nächsten Morgen lächelte er seine Mutter an.
Von da an wandte sich alles. Er half seiner Mutter, wo und wie er nur konnte und es stellte sich heraus, dass er sehr gut mit Leder und Nadel und Faden umgehen konnte. Er nähte ein paar winzige Schuhe, insgeheim hoffte er wohl, dass das Elfenkind noch einmal käme, dann könnte er ihr diese Schuhe schenken. Aber sie kam nie wieder.
Er aber, er konnte so schöne Schuhe herstellen! Alles, was es an Leder je im Hause gegeben hatte, hatte er schon verbraucht. Die Mutter beschloss, in die Stadt zu ziehen, ans Meer, dahin, wo die Handelsleute ankamen mit ihren großen Schiffen. Dort mietete sie ein Zimmer und sie verkauften die kleinen Schuhchen, erhandelten neues Leder und so ging es fort und der Sohn und sein Handwerk reiften heran.
Unterdessen strickte und nähte die Mutter kleine Hemdchen und Kleidchen und kleine Strümpfchen und so bauten sie sich einen Handel mit Kinderbekleidung auf. Die Waren reisten nun um die ganze Welt und immer wieder kamen die Handelsleute und kauften gern bei ihnen.
Der Sohn wünschte sich sehr, doch einmal in die Welt hinaus zu gelangen, um in all den fremden Ländern die Schuhe anzuschauen. Aber wie sollte er das Geld für die Reise aufbringen? Außerdem war er erst 15 Jahre alt. Und dann kam diese Kriese über das Land. Alle waren arm.
Und er hatte zuletzt nur noch einmal Leder für ein Paar Schuhe. Das schnitt er noch am Abend zu, und legte es auf den Tisch und ging dann zu Bett, um es gleich am nächsten Morgen zu vernähen. Als er am nächsten Morgen aufstand und sich an die Arbeit machen wollte, da staunte er nicht schlecht. Da standen ein paar fertig genähte Schuhe, mitten auf dem Tisch!
Zögernd ging er um den Tisch herum und besah sich die Schuhe, schließlich nahm er sie in die Hand und schaute sie genauer an. Sie waren perfekt genäht, kein einziger Stich saß falsch, gerade wie ein Meisterwerk. Und dann fand sich auch schon ein Käufer, der diese Schuhe so sehr mochte, dass er ihm mehr als das Übliche dafür bezahlte und so konnte er Leder für zwei Paar Schuhe erhandeln. Wieder schnitt er sie noch am Abend zu, um sie gleich am nächsten Morgen fertig zu nähen, aber das brauchte er nicht, denn die Schuhe standen wieder fertig auf dem Tisch. Das ging nun so fort und bald waren Mutter und Sohn aus der Armut heraus.
Die Mutter sagte: "Wollen wir nicht einmal wach bleiben und sehen, wer uns so große Hilfe leistet?" Der Sohn war damit einverstanden und so blieben sie in dieser Nacht auf und versteckten sich in den Ecken des Zimmers hinter dem Vorhang.
Kaum warteten sie da, als auch schon zwei muntere, kleine Kerlchen, gerade so hoch, wie eine Spanne, durch den Rauchfang schlüpften und schnurstracks zum Tisch sprangen, sich die Lederstücke nahmen und so geschwind und behänd nähten und klopften, dass dem Sohn vor Verwunderung die Augen über gingen. Als alles fertig war, sprangen die Männlein munter wieder hin zum Rauchfang und verschwanden.
"Wir sollten Ihnen etwas schenken!" sagte die Mutter, "sie sind so ärmlich gekleidet und helfen uns doch so viel!" Und der Sohn war es zufrieden.
Er hatte immer noch die kleinen Schuhchen, die er dem Elfenkind gemacht hatte. Also fertigte er ein zweites Paar und die Mutter nähte Hemden und Hosen und dann legten sie alles auf den Tisch und versteckten sich wieder um zu sehen, wie es den Männlein gefällt.
Als die Männlein in dieser Nacht kamen und anstelle des Leders die schönen Sachen sahen, schauten sie sich erst verwundert an, dann aber lachten sie, zogen mit einer Freude die Sachen und Schuhchen an, strichen die Kleider am Leibe glatt und sagten: "Was sind wir Kerlchen schick und fein, wollen nicht länger Schuster sein!" Und dann sprangen sie vom Tisch herunter auf die Bank und hinuter auf den Boden, liefen zum Kamin und verschwanden, wie sie gekommen waren, durch die Rauchfangöffnung.
Sie kamen nie wieder, aber alles, was Mutter und Sohn anfassten, gelang ihnen wohl.
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Jedoch, die Sehnsucht des Sohnes, in die Welt zu reisen, wie sein Vater einst, ließ ihn nicht los. Er war kein Seemann, nein, aber Schuster. Er wollte Hornschuhe und spitze Schuhe und runde Schuhe und Sandalen und Pantoffeln aus allen Ländern sehen. Und so bat er die Mutter, fort ziehen zu düfen, und, schweren Herzens zwar, willigte sie ein.
Er fuhr mit dem Schiff. Er reiste mit einer Mannschaft zur Iberischen Halbinsel (Spanien), von dort zu den Kapverdischen Inseln, an die Küste Westafrikas, dann über den Atlantik hin zur Küste Südamerikas, die Magellanstraße hindurch auf die andere Seite Südamerikas, die Küste hinauf und hinauf und hinauf und schließlich in einem mutigen Ruck den Pazifik west-nordwest hinüber nach Japan.
Sie hatten Waren an Bord und neue Leute. Einige aus Afrika, einige aus Südamerika. Einer war ein Geschichtenerzähler, ein Griot aus Afrika – meine Güte, was der alles kannte und erzählte. Bei sich hatte er immer diesen zerbrochenen Krug und immer wieder erzählte er Geschichten von Kwaku Ananse, diesem Spinnenmännchen.
Einmal, da kam es Kwaku Ananse in den Sinn, doch die Weisheit der Welt zu sammeln. Ja, er wollte die gesamte Weisheit der Welt sammeln und sie seiner Familie, seinen Nachfahren zur alleinigen Verfügung stellen. Also machte er sich auf den Weg. Er hatte sich einen Tonkrug, einen Tonkrug mit Deckel, mit einer Schlingpflanze angebunden und zog nun durch die Lande und fragte Mensch und Tier die kniffligsten Fragen. Immer, wenn er eine kluge Antwort bekam, öffnete er zum Erstaunen seines Gegenüber den Deckel des Tonkruges und flüsterte die Antwort hinein.
Als er nun meinte, alle Weisheiten der Welt gesammelt zu haben machte er sich auf den Heimweg und er sang unterwegs ganz vergnügt, er sei jetzt so weise, weiser als alle Götter.
So kam er in die Nähe seines Heimatdorfes in den Wald und dann bleib er stehen und überlegte: "Wenn ich jetzt mit meinem Schatz in das Dorf komme, werden mich alle fragen, was ich da habe und sie werden mir schließlich den Tonkrug entreißen. Ich will lieber das Willkommensfest der Familie abwarten und dann mit ihnen hier in den Wald gehen und das Geheimnis teilen!"
Er schaute sich um, wo denn der Krug am besten zu verstecken wäre und siehe da, der Kazaura Baum, unter dem er stand, schien ihm geeignet. Der hatte einen geraden, schmalen Stamm und weit ausladende Äste mit dichtem Blätterwerk. Kwaku Ananse band sich also den Krug um den Bauch und wollte den Kazaurabaum hinauf klettern. Dazu legte er seine Spinnenbeinchen an: Die untersten, die obersten, die in der Mitte passten nicht so recht, sie reichten nicht um den bauchigen Krug, sie tasteten gerade mal an den Baumstamm. Und so versuchte er hinauf zu klettern. Aber nach ein paar Metern fiel er rücklings hinunter und landete auf dem Rücken und zappelte mit den Beinchen. Er rappelte sich auf und versuchte es erneut, wieder schaffte er es einige Meter, dann fiel er wieder herab. Das ging nun eine ganze Weile so und immr verbissener war Kwaku Ananse, seine Haut hing schon in Fetzten vom Rücken, aber er versuchte es wieder.
Und als er wieder so auf dem Rücken lag und in die Luft blickte, beugte sich plötzlich der Hase über ihn und sagte: "Was machst du da? Ich habe dich schon eine Weile beobachtet. Was hast du denn da in deinem Krug?" Kwaku Ananse, noch immer auf dem Rücken liegend, schlang seine Beinchen enger um den Krug und log:" Das kann ich dir nicht sagen, wenn ich es dir sage, müssen wir auf der Stelle sterben!" "Na dann will ich es lieber nicht wissen", sagte der Hase und half ihm aus der Rückenlage auf. "Aber, meinst du nicht, es ist einfacher, den Baum hinauf zu gelangen, wenn du dir den Krug auf den Rücken bindest?" "Was!" rief Kwaku Ananse völlig entrüstet aus. "Da bin ich den ganzen Weg durch die Welt gewandert und habe alle Weisheit zusammen geholt und dann kommst du, kurz vor meinem Heimatdorf und hast noch eine klügere Antwort parat!"
Wütend und trotzig band Kwaku Ananse sich den Krug vom Leib und schleuderte ihn in einem Ruck weit von sich und der Krug zerbrach und die Weisheit entfleuchte in alle Winkel zurück in die Welt. Kwaku Ananse aber stapfte durch das hohe Gras zurück in sein Heimatdorf.
"Tja und dies ist der Krug, zerbrochen zwar, aber der Deckel ist noch ganz."
So oder so ähnlich erzählte es der Geschichtenerzähler immer wieder.
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Er starb auf der Reise über den Pazifik; das war eine beschwerliche Reise, nicht viele überlebten. Und der Geschichtenerzähler, er vermachte dem Schuster aus England diesen Krug.
Dann endlich erreichte das Schiff Japan! Als die Mannschaft sich erholt hatte und nachdem sie sich nun frei im Land aufhalten durften, konnte der Schuster bald seine Schuhmacherkunst anwenden – die Frauen hatten kleine Füße und sie mochten die Schuhe, die er fertigte sehr. So wurde er in Edo sehr bekannt, also war es nicht verwunderlich, dass er in den Palast gerufen wurde; die Prinzessin hatte von seiner Kunst, besondere, feine, schöne Schuhe herzustellen, erfahren.
Und dann stand er vor ihr und als er sie sah, da war ihm, als würde die kleine Elfe, nun nicht mehr eine Spanne hoch, vor ihm stehen. Sie hatte dieselben rabenschwarzen Haare, ein milchweißes Gesicht, pfirsichrote Wangen und einen kirschroten Mund.
Sie sahen sich lange an und dann fragte sie ihn mit einer etwas schrillen Stimme:
"O namae wa nan des ka?" Wie ist dein Name?
Und er antwortete: "Watashi no namae wa, Watashi des." Mein Name ist Ich.
Die zwei verliebten sich auf der Stelle, das entging auch dem Tenno nicht.
Nun, was soll ich euch sagen.
Das Märchen geht gut aus! Die zwei durften heiraten und der Vater? Er war ja selbst oft mit seinem Schiff unterwegs und unternahm nun eine besondere Reise; er reiste nach England - auf dem Seeweg, auf dem Landweg - und suchte die Mutter auf.
Die hatte immer noch ihren Laden, nun sogar mit Waren aus aller Welt, mit irdenem Geschirr und Tonkrügen. Und er, der Tenno, hatte den einen Tonkrug dabei und bot ihn feil, aber sie sagte: "Was soll ich mit einem zerbrochenen Krug! Den kauft mir doch keiner mehr ab!"
Und er erzählte ihr zunächst die Geschichte von dem Geschichtenerzähler, dem Griot auf dem Schiff, das den mutigen Ritt über den Pazifik wagte, der immer diese Geschichten erzählte und dann erzählte er die Geschichte selbst, die von Kwaku Ananse und der Weisheit und dann erzählte er, von wem er diese Geschichte kannte.
Die Mutter war außer sich vor Freude, so von ihrem Sohn zu erfahren und der Tenno und die Mutter? Nun ja, Märchen gehen gut aus! Sie verliebten sich ineinander und ihr dürft entscheiden, ob sie zurück nach Japan reisten, oder ob sie in England blieben. Fest steht, alle waren glücklich.
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Rotraut Saeki - Die schönsten japanischen Märchen - Yukihime Schneeprinzess
Buddhistische Märchen - Die Trauerzeit von 49 Tagen
aus England - Ich
Märchen der Gebrüder Grimm - Die Heinzelmännchen
Spanne als Maßeinheit
kleine Spanne, siebenzöllig:
Maß zwischen Daumen und Zeigefinger bzw. abgespreiztem Daumen und Handkante
große Spanne, neunzöllig:
Maß zwischen abgespreiztem Daumen und Spitze des abgespreizten kleinen Fingers
Mit Dank vorab für Ihre Empfehlungen!
Herzliche Grüße
Anke Ilona Nikoleit