Versunkene Welten
Text: von Michael Pommerening
Heute möchten wir Ihnen Arbeiten einer Frau vorstellen, die eine recht ungewöhnliche Liebe zu ihrem Beruf gemacht hat. Anke Ilona Nikoleit aus Berlin liebt Märchen und Mythen. Sie ist Märchenerzählerin.
Und weil sie die Mythen und Märchen nicht mehr loslassen, hat sie ihren märchenhaften Träumen nun Gestalt gegeben. Sie illustriert ihre Phantasien, gibt ihnen Form und Farbe. Heraus kommen dabei Gebilde, Wesen, Phantasmen aus einer anderen Zeit, die es so nicht gegeben haben muss, die aber trotzdem lebendig werden, immer dann, wenn Anke Nikoleit in diese Märchenwelt abtaucht, in die Geschichten aus Tausend und einer Nacht, aus fernen Zeiten und fernen Welten und damit nicht nur Kinder verzaubert.
Märchen und Mythen teilen miteinander, dass ihre Geschichten fast untergegangen, ihr realen Bezüge in Vergessenheit geraten sind.
Hinter der nur scheinbaren inhaltlichen Übereinstimmung von Märchen, Sagen und Mythen tun sich bei näherer Betrachtung aber große Unterschiede auf. Was die Theorie und Wissenschaft herkömmlich als Märchen einordnet, was sich von der hstorischen Überlieferung der Mythen abhebt, ist ihre erzählerische Genauigkeit.
An den erhaltenen Mythen erkennt man leicht, was die Märchen nur sehr unklar ausdrücken: nämlich den Versuch des Menschen, Furcht vor Übermächtigem und Unverstandenem zu bewältigen. Mythen stehen oft vordergründig für eine bestimmte Weltauslegung, eine Lebensdeutung, die Etablierung von bestimmten Machtverhältnissen und deren historischer Rechtfertigung.
Bei dem Lesen und Erzählen von Märchen ist das anders. Zwar bilden Märchen ideale Wunschbilder einer ausgleichenden Gerechtigkeit. Aber diese sind nicht aus inhaltlichen Gründen entstanden, sondern vielmehr aus dem Bedürfnis der Menschen sich in dunklen Stunden, mit viel dazu-Gedachtem, oft auch brutalen und gruselig Erlebtem, Geschichten zu erzählen, um diese Ereignisse zu verarbeiten. In Zeiten ohne Hightech-Dauerberieselung war das die einzige Möglichkeit, den oft unvorstellbar harten Alltag zu vergessen.
Schauen wir uns alte Familienfotos an, von Feierlichkeiten, auf denen mehrere Generationen zusammenkommen. Dort wird getanzt, gegessen und getrunken und je fortgeschrittener die Stunde, je mehr machen Geschichten aus einer längst vergangenen Zeit die Runde. Geschichten, die wenn man sie nicht bewahrt, im Sande der Unendlichkeit verlaufen würden, vom Vergessen verschluckt, vom Verdrängen verdunkelt. Aber wir brauchen diese Geschichten, weil sie ein Stück von uns sind, weil sie vom Leben erzählen und vom Sterben, vom Gut und Böse, von Mensch und Magie.
Und so vielschichtig das Verhältnis der Menschen zueinander im Alltag ist, ebenso viele Charaktere, Stimmungen und Ansichten treffen bei Erzählungen, eben Märchen, aufeinander.
Und so sehen wir in der heute zu eröffnenden Ausstellung mit Arbeiten der Märchenerzählerin Anke Ilona Nikoleit den Versuch, diese Geschichten der Menschen, die den gesamten Erdball umspannen, in Form und Farbe zu bringen, ihnen Gestalt zu geben, diese märchenhaften Träume zu illustrieren.
Zu jedem Bild von Anke Ilona Nikoleit gibt es eine Geschichte.
Anders als bei freier künstlerischer Entäußerung, die noch auf ihre Geschichte wartet, die noch gedeutet werden will, ausgelegt von den Menschen, die sie betrachtet, haben die Bilder von Anke Nikoleit schon eine Geschichte hinter sich. Sie sind gelebt, wurden durch Erzählungen weiter verändert, durch Ereignisse neu geordnet, durch Erfahrungen neu bewertet. In den Bildern finden wir einen Teil der tausendjährigen Suche der Menschen nach dem WOHER und WOHIN, dem Versuch der Dunkelheit des Wissens zu entfliehen, aber auch die Erkenntnis von der Schönheit des Lebens durch unsere tausendjährige Geschichte und über alle Kontinente hinweg.
Märchen sind – oft nur in Gut und Böse eingeteilt - die in Geschichten geronnene Lebenserfahrung der Menschen, die ewige Hoffnung auf ein Happy End, weil nur die schönen Erinnerungen bleiben. Für die kurze Zeit, in der wir diesen Geschichten zuhören, entfliehen wir für einen Flügelschlag der Zauberfee aus unserem Alltag, halten inne und gehen einen Schritt zurück in unsere Erinnerungen.
In den Arbeiten von Anke Ilona Nikoleit finden sie ein Stück dieser Erinnerung.
Und diese Arbeiten möchten ihnen diese eine Idee, gegen alle digital Verliebten und Kunstgeringschätzenden mit auf den Weg geben: Erhaltet und bewahrt diese eure Geschichten, denn nur sie werden euch überdauern und von euch erzählen, wenn ihr schon lange nicht mehr durch diese irdischen Gärten wandelt.
Und deshalb die Bitte: Glaubt an Märchen. Nicht an die der Politik und Parteien, nicht an die der Mächtigen, sondern an die, die ihr selbst erlebt und erfahren habt.
(M.Pommerening, Regenmantel/6.8.22)